BGH: Änderung der Rechtsprechung zur Berechnungsgrundlage für Pflichtteilsergänzungs- ansprüche nach § 2325 Abs. 1 BGB bei widerruflicher Bezugsrechtseinräumung

Der BGH hat die seit Schaffung des BGB umstrittene Rechtsfrage neu beurteilt, auf Grundlage welchen Werts ein Pflichtteilsberechtigter eine Ergänzung nach § 2325 Abs. 1 BGB verlangen kann, wenn der Erblasser die Todesfallleistung einer von ihm auf sein eigenes Leben abgeschlossenen Lebensversicherung mittels einer widerruflichen Bezugsrechtsbestimmung einem Dritten schenkweise zugewendet hat.

Der BGH hat die bisherige, auf ein Urteil des Reichsgerichts aus den 1930er Jahren (RGZ 128,187) zurückgehende und an der Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien anknüpfende Rechtsprechung aufgegeben, und entschieden, dass es allein auf den Wert ankommt, den der Erblasser aus den Rechten seiner Lebensversicherung in der letzten – juristischen – Sekunde seines Lebens nach objektiven Kriterien für sein Vermögen hätte umsetzen können. In aller Regel ist dabei auf den Rückkaufswert abzustellen. Je nach Lage des Einzelfalls kann gegebenenfalls auch ein – objektiv belegter – höherer Veräußerungswert heranzuziehen sein, insbesondere wenn der Erblasser die Ansprüche aus der Lebensversicherung zu einem höheren Preis an einen gewerblichen Ankäufer hätte verkaufen können. Dabei ist der objektive Marktwert aufgrund abstrakter und genereller Maßstäbe unter Zugrundelegung der konkreten Vertragsdaten des betreffenden Versicherungsvertrags festzustellen. Die schwindende persön-liche Lebenserwartung des Erblasseres aufgrund subjektiver, individueller Faktoren – wie insbesondere ein fortschreitender Kräfteverfall oder Krankheitsverlauf – darf bei der Wertermittlung allerdings ebenso wenig in die Bewertung einfließen, wie das erst nachträglich erworbene Wissen, dass der Erblasser zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich verstorben ist.
Damit ist der BGH einer Tendenz in Literatur und Rechtsprechung heute entgegengetreten, die – unter Berufung auf ein Urteil des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zu einer ähnliche Fragestellung im Insolvenzrecht (Urteil vom 23.10.2003, Az.: IX ZR 252/01) – bei der Berechnung des Pflichtteilser-gänzungsanspruchs auf die gesamte Versicherungssumme abstellen wollte.
In den entschiedenen Fällen haben die Kläger jeweils als enterbte Söhne des Erblassers gegen die Erben Pflichtteilsteilsergänzungsansprüche geltend gemacht, die sie auf Grundlage der ausbezahlten Versicherungsleistungen berechnen wollten. Die jeweiligen Berufungsgerichte haben die entscheidende Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet. Während das OLG Düsseldorf den Pflichtteilsergänzungsanspruch auf Grundlage der vollen Versicherungssumme berechnet hat, ist das Kammergericht von der – geringeren – Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien als Berechnungsgrundlage ausgegangen.
Der BGH hat beide Berufungsurteile aufgehoben und die Verfahren an die Berufungsgerichte zurückverwiesen, um den Parteien weiteren Vortrag unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung zu ermöglichen.
Da die in der Bundesrepublik Deutschland in Lebensversicherungsverträge investierten Beträge im Milliardenbereich liegen und die widerrufliche Einräumung von Bezugsrechten ein weit verbreitetes Mittel bei der Nachlassgestaltung darstellt, wird der Entscheidung – neben der rechtlichen Bedeutung – auch erhebliche wirtschaftliche und praktische Wirkung zukommen.
Urteile des BGH vom 28.04.2010

Az.: IV ZR 73/08 und IV ZR 230/08

Quelle: Pressemitteilung Nr. 89/2010 des BGH vom 28.04.2010

Vorinstanzen:

LG Mönchengladbach, Urteil vom 29.06.2007, Az.: 11 O 433/06
OLG Düsseldorf, Urteil vom 22.02.2008, Az.: I-7 U 1407/07

LG Berlin, Urteil vom 27.07.2007, Az.: 8 O 90/07
KG Berlin, Urteil vom 13.03.2008, Az.: 16 U 35/07